
Auch hier schaut der listenreiche Loki aus jeder Pore des Textes, der inmitten jenes Buches steht, in dem Niklas Luhmann die Schätze der Kunst für seine Systemtheorie zu verarbeiten sucht.
Was schreibt Luhmann hier?
Er behauptet, dass Kunst, das sich selbst reflektierende Subjekt verstärkt ins Zentrum rückt, so dass dieser Reflexionsvorgang sich als eine operative Einheit isolieren lässt, ein abstrakter Beobachter eingeführt werden kann, der die Kunst von anderen Weltdingen unterscheidet und bezeichnet. Mit dieser Unterscheidung Kunst/Welt schafft Luhmann einen Raum für Selbst- und Fremdreferenz, die er das Medium der Kunst nennt, das unabhängig von den daran beteiligten Subjekten für sich betrachtet werden kann und sich selbst kommuniziert.
Diese geniale Leistung von Niklas Luhmann erlaubt uns den selbstbezüglichen Kreislauf einer Subjekt/Objekt-Betrachtung zu entkommen und „automatisiert“ operative Vorgänge im Kunstbereich als systemimmanente Phänomene zu betrachten.
Luhmann kann sich hier auf existenzielle Künstler wie Samuel Beckett oder Sartre berufen, auf Ansätze der Minimal Art, auf Popkunst, auf Aspekte von Dada und Neodada, auf realistische Tendenzen im Film, auf phantastische Kunstformen, die weit über Kunst hinaus Popularität (1) erlangt haben.
Den in meinen früheren Texten in #luhmannsschwarzehefte ausführlich behandelte Verlust, der mit dieser Reduktion einhergeht, möchte ich hier nur kurz andeutet.
Wie kommt Luhmann dazu, die Kunst als ein geschlossenes System von den realen Vorgängen der Kunst (wie Kunst-machen, -auszustellen, -betrachten) abzutrennen?
Er kann das, indem er das Subjekt in der Kunst auf Beobachten, Bezeichnen, Unterscheiden reduziert.
Diese, durch Reduktion geschaffene Einheit des Kunstsystems, dieses „Sondersystem gesellschaftlicher Kommunikation“, nimmt
– den Verlust der Stofflichkeit der Welt in Kauf
– verliert den Bezug auf das seelisch- körperliche Verfasstsein der Kommunizierenden
– kennt kein Leiden, kein Mitgefühl
– verliert die Naivität des unbedachten ersten Blicks, des unreflektierten Beginnens, wie des unbedachten Weiterstolperns
– verstärkt begrifflich intellektuelle Spiegelfechtereien
– setzt voraus, dass „Unterscheiden“ DAS Zentrum der geistig-seelischen Tätigkeiten des Subjektes sei
– erhebt den distanziert abstrakt, beobachtenden, unbeteiligten Blick
– schafft eine Metaebene nach der anderen –
– ist toxisch und verunsichernd für all diejenigen, die sich diesem „Weltbild“ aussetzen, wie Luhmann selbst eingestehen musste.
Luhmann wirkt mit diesem Schritt auch auf die Psyche zurück, da er unterstellt, diese muss immer eine Unterscheidung von Selbst- und Fremdreferenz vornehmen, bzw. er zwingt die Psyche über Kommunikation, diese Unterscheidung vorzunehmen. Kann sie das nicht, wird nichts kommuniziert, ist der logische Schluss aus diesem systemtheoretischen Denkansatz (2).
„Das (Kunst) Medium aber ist die dem gesellschaftlichen Alltag abgetrotzte Unwahrscheinlichkeit des kombinatorischen Formgefüges der Kunst, die den Beobachter an den Beobachter verweist.“ NL
Schon an den Begriffen der Redundanz und der Konnotation wurde deutlich, dass Luhmann das Medium Kunst – in dem alle Künste vereinigt sein sollen – an der Alltagssprache orientiert. Kunst würde vom Überschuss der Sprachbedeutungen profitieren, der im Alltag nicht verwendet wird. Die Kunst könne diesen Überschuss ausschöpft, indem er ihn in Form bringt.
An Stelle des Künstlers und Betrachters tritt der Beobachter, wodurch aber alle anderen sinngebenden Wahrnehmungsleistungen auf Beobachten reduziert bleiben.
Das Essentielle der Kunst, die Kunst als Selbstreflexion wäre ein Vorgang, in dem die Hüllen des Alltäglichen (die Interpretationshilfen) immer mehr abgelegt werden, um die Struktur der reinen Selbstreflexion zutage zu fördern.
Diese Idee von Kunst, die etwas von einem Philosoph- und Religionsersatz an sich hat, steht im krassen Gegensatz zur Vorstellung einer Kunst, die das Künstliche immer mehr abzulegen sucht, um z.B. im Theater Szenen zu schaffen, die vom Alltag gerade nicht zu unterscheiden sind.
Die Karikatur und Satire hat dies zum Ziel. Das Famose an einem Karl-Valentin-Stück (x) ist, dass es an die Satire des Alltags so weit als möglich heran kommt und sich nicht mehr davon unterscheidet.
Auch Dramen arbeiten daran, sich der unübertrefflichen Dramatik, die das Leben aufführt, anzunähern.
Karl Valentin, DER ZUFALL
Luhmann führt „Unwahrscheinlichkeit“ als Maßstab für alle Künste ein, eine „Unwahrscheinlichkeit“, die sich an Möglichkeiten orientiert, von denen angenommen wird, sie stünden im Superkaufhaus der Möglichkeiten zur Verfügung, und der Künstler könnte sich daraus bedienen.
Dieses Denken eines Bibliothekars, Kurators oder Bankers ist dem Künstler völlig fremd, denn auch wenn angenommen werden kann, es gäbe optionale Möglichkeiten, (3) so ist die Orientierung, von der sich die Auswahl leiten lässt, das genaue Gegenteil von Optionalität. Für den Künstler gibt es nur eine mögliche Form, die er anvisiert.
(Möglichkeit selbst ist nicht etwas, das als Verfügbares vorausgesetzt werden kann. Möglichkeiten erschließen sich erst im Zuge des Anvisierens von Etwas und kann nicht als Da-Seiendes vorausgesetzt werden.)
So ist das Verständnis des Künstlers zur Alltagssprache nicht das der Denotation, sondern gerade im Alltag finden sich die konnotativen Möglichkeiten vor, mit denen er gestaltet.
Der Künstler sucht nicht einen Zusatz-Sinn, den er aus den Sprachmöglichkeiten auswählt, und damit das Alltägliche ins Sinnvolle erweitert. Er ist auf der Suche nach dem essentiellen Sinn der Worte, Sätze, Rhythmen usw.
„Unwahrscheinlichkeit“ ist ein Masstab für Spekulanten, für Werbespezialisten die um Aufmerksamkeit heischen, aber kein Maßstab der Künstler.
„Unwahrscheinlichkeit“ sucht der „Agent Provocateur“, dem es ausschließlich um Provokation geht. Alle KünstlerInnen die provoziert haben, haben immer vehement bestritten, Kunst zu machen, um provozieren zu wollen.
„Unwahrscheinlichkeit“ verwechselt Optionalität mit Form-Gestaltung. In dieser gibt es nur eine Option, wenn das Wort Option überhaupt hierher gehört?
Kunst ist so radikal und diktatorisch wie Jonathan Meese sie uns karikierend vorführt!
„Unwahrscheinlichkeit“ ist eine Kategorie des Spielkasinos, wie der Wahrscheinlichkeitsrechner, die während Corona eine Hochblüte erlangte.
Komposition ist etwas völlig anderes als Kombinatorik. Gerade in der elektronischen Musik war das für einige eine schmerzliche Erkenntnis.
Wer Kombinatorik mit Komposition verwechselt, kann EIN Kunstwerk machen, aber meist kein zweites. So wie die Dadaisten nur einmal willkürlich Pfeile auf eine Landkarte warfen, um den Ort für ihr nächstes Treffen auszuwählen und Tarrenz in Tirol trafen, wo sie zusammenfanden.
Der Effekt des Zufalls verbraucht sich, sobald der Sinnhorizont ihn verschluckt und in seine Beliebigkeit zurückgestuft hat.
Mit „Unwahrscheinlichkeit“ wird die Begründung des selbständigen Kunstsystems von NL zur Beliebigkeit.
Die Kunst ist autonom, aber die Selbst und Fremdreferenz der Kunst wurde durch den konsequenten Schritt, mit dem Joseph Beuys den erweiterten Kunstbegriff in „die Soziale Plastik“ überführte, aufgelöst.
Wenn „jeder Mensch ein Künstler“ ist und das die Konsequenz der emergenten Kunstentwicklung sein soll, ist Kunst eine Art transformatorisches System, das sich, indem es – im Sozialen – wirkt, sich in ihm auflöst?
Wenn in der „Sozialen Skulptur“ noch von Kunst gesprochen werden kann, dann nur als etwas sich permanent Verflüchtigendes und Erneuerndes im Sozialen als Ganzes?
Sollte es in der Sozialen Plastik noch Selbst- und Fremdreferenz geben, müsste diese dynamischer gedacht werden als bei Niklas Luhmann, der von einem autonomen Kunstsystem ausgeht, vergleichbar dem der Wissenschaft und des Rechts.
Oder anders, wenn Recht ein System sein soll, kann Kunst (nach Beuys) keines sein, oder etwas so Verschiedenes, dass es nicht sinnvoll erscheint, beides mit demselben Wort zu fassen.
GL
(1)John Ronald Reuel Tolkien
(2) Im Mitempfinden mit einem anderen Menschen, in der Bewunderung der Arnika im Gebirge, des Pudels, der sich gelehrig zeigt, meines Freundes, mit dem ich gerne rede, der Freundin, mit der ich telefoniere, der mich wärmenden Landschaft, nach der ich mich sehne, dem Absatzes in einem Gedicht von Christine Lavant, all dem bin ich doch eher verbunden, als dass ich mich davon unterscheide?
Sind das nicht Situationen, in denen es wohl eine Unterscheidung gibt, die aber weitgehend auf Verbindendes ausgerichtet ist?
Wahrscheinlich haben Luhmann deshalb Kunst und Liebe so angezogen, weil sie seine Systemtheorie zu sprengen schienen.
(3) Ähnlich wie bei Derivaten, einem Produkt des Geldwesens, das die Geldwirtschaft an den Rand des Abgrundes führte)