
Überlegungen zu Friederike Gösweiners Roman
Obwohl die Autorin es versteht, mich in den Bann zu ziehen, weiß ich nicht, ob ich das Buch ganz zu Ende gelesen hätte, würde mich nicht eine Bekanntschaft – ich darf es Freundschaft nennen – mit der Familie verbinden, der sie dieses Buch widmete.(1)
Nicht voyeuristische Neugier ließ mich weiterlesen, es interessierte mich, ob die Rahmenhandlung – der plötzliche Tod des Ehegatten, des Vaters – nur ein Rahmen bliebe, in den vieles gefüllt würde, oder ob der Tod Thematik und Gestalt des Romans ganz durchdringe.
Dieser durch einen Herzinfarkt verursachte unerwartete Tod des 60-jährigen Physikers, der voll in seine Universitätsprojekte eingespannt war, bestimmt schon topologisch die Handlung des Romans. Dort, wo der Vater starb, wo das Haus der Familie ist, trifft man sich während der weiteren Erzählung.
Das innere Schweigen und Sprechen des Vaters klingt in seiner Frau Marlene, in Tochter Filippa und Sohn Bob in allen möglichen und unmöglichen Situationen an. Das retardierend Lähmende der immer gleichen Erinnerungsbilder kann die Wirkung dieser bestimmenden wie geliebten und zu bewältigenden Vater-Figur gut fassen.
Die geschickt eingesetzten Introspektionen, die Selbstgespräche, über die der Leser am Innenleben der Figuren teilnimmt, erweisen sich nicht nur als geeignet, die Verarbeitung des Verlustes darzustellen und die Figuren intim kennenzulernen, es versetzt den Leser zeitweise in belebende Lesefreude.
Friederike Gösweiners Stärke sind die Beziehungen der Menschen. Schön (2) arbeitet sie die Mutter-Tochter sowie die Tochter-Mutter-Beziehung heraus. Ebenso wird das Verhältnis zwischen Schwester und Bruder plastisch.
Die Einsamkeit und das Zurückziehen von Bob, das zu Missverständnissen mit Mutter, Freundin und Schwester führt, ist gut nachvollziehbar.
Das Verhältnis Vater und Sohn wird lebendig, während das zwischen Tochter und Vater und die Beziehung des Ehepaars eher sentimental als weiter ausdifferenziert beschrieben ist.
Die Orte der Handlung, Paris, London, Griechenland und der Provinzort, in dem die Familie lebt, bleiben wie Staffagen, die mit Nachricht-Ereignissen wie Anschläge, Finanzkrise, Flüchtlinge und dem Abriss einer alten Industrieanlage beklebt sind.
Diese bieten der Sorge der Mutter um die Tochter konkrete Angriffsflächen, während die Sorge um den Sohn daraus erwächst, dass dieser ihr jede Angriffsfläche entzieht: Er erzählt ihr nichts.
Das alte Sorge-Konzept der Mutter steht der zeitgemäß intellektuellen Idee des Wahrscheinlichen und des Unwahrscheinlichen von Handlungen und Ereignissen gegenüber. Diese vom Vater schon vertretene Idee wird bei den Kindern zum modernen Schicksalskonzept.
Das akademische Milieu mit seinen Schlingen und Fallen wird lebensfeindlich interpretiert und die prekären Situationen im Mittelbau der Universitäten begleiten das gesamte Geschehen.
Dem Zeitgeist entsprechend wird auch die Genderfrage mitgenommen.
In einer köstlich beschriebenen Situation werden uns die Missverständnisse und das Unsensible, das mit dem Politsch-Werden der Geschlechterfrage einhergeht, vorgeführt.
So schön diese Szenen mit den unzähligen Bashing-Mails und deren Reflexion vor prähistorischen Fischen im Louvre auch sind, so verloren wirkt es im Geschehen. Aber vielleicht ist das ein weiterer Anlass, die Traurigkeit der Welt der Filippa ausgesetzt ist, spürbar zu machen?
Die Landschaft Griechenlands, der Louvre und ein, zwei Boulevards in Paris stehen als Orte im Nirgendwo.
Hingegen werden Abflughallen, Bahnhöfe und das elterliche Haus zu intimen Orten, an denen sich Gefühle entfalten.
Die zeitliche Struktur, die wie in einem Tagebuch mit Datum, Absatz für Absatz gegliedert wird, hilft dem Leser der Sukzessivität der Handlung zu folgen und ermöglicht der Schriftstellerin gelegentlich aphoristische Absätze einzufügen, die für sich selbst eine Schönheit entwickeln.
Die Themen des Bruders und Physikers sind „Zeit“ und „Fragen der Zeitlosigkeit des Kosmos“, aber auch das Erleben der Natur Griechenlands, das sich über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens erhebt, bleiben für mich in den Seilen der Konstruktion des Romans hängen, finden nicht so richtig Boden.
Ein studierter Physiker der 2015/16 dagegen ankämpft, dass seine Kollegen immer noch dem Newtonschen Weltbild anhängen und den emergenten Kosmos nicht anerkennen wollen, wäre vielleicht vor hundert Jahren aktuell gewesen, aber heute….?
Ebenso bleibt in der Konstruktion der gegenwärtige irdische Kinderwunsch von Filippa hängen, der sie so in Stress versetzt, dass jede aufkeimende Fruchtbarkeit verödet.
Etwas Rätselhaftes eröffnet sich mir aus den Beziehungen der Geschwister und deren Partner.
Die Partner der Geschwister bleiben blass und dienen vorwiegend als Projektionsflächen. Sie sagen fast nichts, haben kein (Innen) Leben, wenig Familie, Freunde und eine schemenhafte Umgebung.
Filippas unerfüllter Kinderwunsch, ihrer Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben, mit festem Standort, Haus, Mann und Kind, spiegelt sich in Zoe, der Freundin von Bob, in deren vage geäußerten Wünschen.
Bob seinerseits kann diese weder wahrnehmen noch erfüllen. Er ist ausschließlich auf seine Karriere getrimmt, unter anderem auch durch den Vater, der ihn ab der Pubertät als Versager gestempelt hat.
Bob wird von der Erzählerin in seinem Wesen weit differenzierter dargestellt als Filippa. Ihr Innenleben gleicht einer „Tauerrevolutionärin“, deren Revolte sich nach innen, gegen sich selbst richtet. Ständige Selbstvorwürfe gehören wie ein innerer Stachel dazu.
Ihr WERK – so findet Filippa selbst – die Habilitation geht unter, und entwickelt sich nicht weiter, außer dass Hölderlins „Hyperion“ schöne und passende Zitate zur Verfügung stellt.
Der „tief traurigen“ Person Filippa, die sich ihrer Trauer wohl bewusst ist, und dies auch ausspricht, würde der Leser wünschen, sie könnte diese Trauer noch deutlicher ausformen und schreibend ausleben.
„Ist es nicht so, dass das Leiden ebenso viel bewirkt, wie alles Machen und Tun, das unser Zeitalter dominiert?“
Ähnliches sagt sich Fillipa selbst.
Der im Text fortschreitende Leser fragt sich, wie die vielen, vielleicht zu vielen aufgedröselten Fäden zu einem Ende geführt werden.
Friederike G macht es auf zwei Weisen: Eine über eine zusammenfassende Introspektion von Marlene und dem sentimentalen Abspielen eines Filmes aus der Kindheit, wieder in einer Abflughalle, bevor Filippa zu einem ungeliebten Vortrag nach irgendwo aufbricht.
Zweitens schneidet das ausgeraubte Haus, aus dem Marlene am Ende ausziehen wird, die anderen offenen Fäden der Handlung einfach ab bzw. lässt sie im „OFF“.
GL
- Meist lese ich nur die ersten dreißig Seiten eines Romans, nur ganz selten packt mich ein Text so, dass ich ihn zu Ende lese.
- Bei so schicksalhaften Beziehungen ist es nicht angebracht, von „schön“ zu sprechen, aber diese können schön dargestellt werden.