Sinn – lebensweltlich

„Interpenetration“ 

Als Beispiel, wie Interpenetration sich evolutionär ausformte, führt uns Luhmann in „Soziale Systeme“ ( S 342) den griechischen Helden, die Heldin vor: 

„Es gibt keine Schonung des Körpers. Es gibt kein Seelenheil, das Leiden ausgleicht oder aus Gnade doch noch gewährt werden könnte. Es gibt keine das Verbrechen überdauernden Rentenansprüche. Handeln ist Interpenetration von Person und Gesetz, in der keine Freiheitsspielräume … vorgesehen sind. Die Größe besteht darin: es zu tun.“ 

Der beiläufige Hinweis auf Evolution gegen Ende des Kapitels „Interpenetration“ macht die abstrakte Dichte jenes Textes deutlich, der die Theorie der Systeme konstruktiv darzustellen sucht, der – wie Luhmann wiederholt sagt- vorerst hoch abstrakt bleiben muss und inhaltlich nicht weiter gefüllt werden wird.

Als Ersatz für die fehlende Fülle an Beispielen aus dem sozialen Alltag wird der Leser im soziokulturellen Crossover  

aus dem Zeitalter der Mythen in das der Sozialversicherungen katapultiert. Das Dazwischen hat der Leser zu leisten, so als ob der Schreiber zuwenig Zeit hatte, die Konstruktion detaillierter auszuführen. 

Man kann sich die Fülle dann zB aus „Liebe als Passion“ und anderen Texten in denen er das Rechts- Wirtschafts-, Erziehungs- und Wissenschaftssystem beschrieben hat, zusammensuchen.

Lebenswelt 

Die luftig, aber elastisch und passgenau gebaute Konstruktion der Systemtheorie und ihre Terminologie wie zB. „Interpenetration“ sind äußerlich wie Schutzwälle gebaut, die des Humors eines Alexander Kluges (1) bedürfen, um niedergerissen werden zu können: Er konnte die weite Spanne von der Konstruktion dessen, was Interpenetration ist,  bis hin zum sexualen Akt, auf den Penetration wörtlich zutrifft, in seiner Peinlichkeit erfassen. Er verstand die Mehrdeutigkeit, die das Durchdringen von Mensch und Gesetz, 

von Zwischenmenschlichkeit und Sozialem, 

von psychischen- und sozialen-Systemen, 

von Körper und Geist 

mit dem Liebesakt verbindet, 

der im 17. Jahrhundert das beherrschende Sozialsystem, die Hofetikette und den Moralcodex des aufstrebenden Bürgertums aufbrach. 

Gibt es Systeme im Sozialen? 

Eine Fangfrage, die, wollte sie jemand direkt beantworten, immer unbefriedigend bleiben wird, denn auch wenn wir  Systeme annehmen könnten und deren Konstruktion beschreiben,  bleibt immer noch die Frage, ob sich im realen geschichtlichen Leben soziale Systeme nachweisen ließen. 

Oder anders: Lassen unsere Alltagsinterpretationen von Welt, lassen die Begriffe, mit denen wir: 

das Soziale, 

die Geschichte, 

das Subjekt, 

das Individuum, 

die Kollektive, 

die Kultur, 

den Staat, 

die Gesellschaft beschreiben,

eine ausdifferenzierte Moderne 

überhaupt beschreiben? 

Wer Luhmann und dessen Begriffe kennengelernt hat, wird abstreiten, dass wir mit dem üblichen Vokabular den Vorgang der Interpenetration beschreiben können. Die alltagsweltlichen Begriffe dazu, oben aufgezählt, stehen geradezu wie undurchsichtige Trübungen vor jenen Tatsachen, die Luhmann mit solch abstrusen Begriffen wie Interpenetration zu beschreiben versucht. 

Abwehr und gleichzeitiger Tiefgang ( oder Höhenflug) sind die beiden Elemente, die sich scheinbar wechselseitig bedingen, um differenziert auszudrücken, was Systemtheorie über Geschichte und Gegenwart auszusagen weiß.  

Weil unsere Begriffe der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit wie unüberwindliche Wälle als Allerweltserklärungen die Sicht auf das Soziale verstellen  meinen wir, diese Wälle seien real und Systeme seien nur als Theorie geeignet etwas zu analysieren, aber in der realen sozialen Welt kämen sie nicht wirklich vor? 

Moral oder Differenz 

 Gerade dort, wo die Konstruktion sich in luftige Höhen bewegt, blickt eine irdische Entsprechung durch und die große Leistung wird deutlich, mit der Luhmann sich von den gängigen Begriffen des Sozialen, des Individuums, des Subjektes, der Wahrheit usw strikt absetzt, um diesen Durchblick zu bekommen. 

Zur „Interpenetration“, die das Zusammenwirken von Systemen beschreibt, gehört die geniale Einsicht: 

– dass in sich geschlossene autonome Systeme ( black boxes) sich über binäre Codes verständigen, ohne damit ihre Autonomie aufzugeben ,

– dass Systeme zur Ausdifferenzierung beitragen, indem sie ihre Komplexität nach innen und außen durch binäre Codes reduzieren,

– dass zwischenmenschliche Verständigung (Interpenetration) sich von den verbindlichen Werten und Normen der Gesellschaft abzusetzen vermag, zB. Freundschaft und Liebe eine parallel und quer zu den gesellschaftlichen Normen sich entwickelnde Sozialform ausbildete, und nach und nach zum Sozialsystem wird,

– dass Moral, die Brücke zwischen Systemen von Person und Personen untereinander und dem gesellschaftlich Verbindlichen eine instabile Bindung ist, die keine Identitäten gewährleistet, sondern sogar Differenzen herstellt,  Moral zieht deren Gegenkräfte geradezu an,

– dass die Entwicklung des Geldwesens und die bezahlte Arbeit alle Sozialstrukturen umkrempelte, 

– dass die Leib/Seele-(R)Einheit zerbrochen, beschmutzt wurde und die bedrohlichen Höllenqualen ihren Reiz verloren haben…..

All das und noch mehr weist darauf hin: mit Interpenetration ist nicht nur eine Systemkonstruktion entstanden, sondern es werden Zugänge zu sozialen Realitäten ermöglicht, die sich ereignen.

Interessant dabei ist: wenn „Interpentration“  festgestellt werden kann, wenn ein Zusammenwirken von autonomen, in sich geschlossenen Systemen festgestellt werden kann ist vorher schon unendlich viel geschehen: Flüchtige Ereignisse mussten sich wiederholen, mussten attraktiv werden, in der Wiederholung sich bewähren, mit anderem sich verbinden, vernetzen, mussten Mehrdeutigkeiten zugelassen, in der Waage gehalten werden, musste eine symbolische Generalisierung stattfinden, bevor eindeutige Zweideutigkeiten (binäre Codes) sich herausbilden konnten, die Interpenetration erst ermöglich.

Der Sinn

Sinn, als ein Begriff des Sozialen beschränkt sich nicht nur auf Schematisierungen, wie sie in der Evolution sozialer Systeme vorkommen, die die Autonomie der Systemen gewährleisten. 

Mehrdeutigkeiten, Vieldeutigkeiten, Redundanzen …. bleiben darüberhinaus systemintern wie extern von Bedeutung. 

Es ist erweiternd, sich auf ein Für oder Dagegen, auf Freund oder Feind, auf Inklusion oder Exklusion, auf Erfolg oder Misserfolg, auf Anerkennung oder Aberkennung einzulassen, denn dadurch eröffnen sich neue Möglichkeiten und Handlungsweisen darauf zu reagieren. Schematismen wirken, wenn sie nicht normativ gesetzt, sondern dem Gegenüber freigestellt werden, komplexitäts-steigernd, betont Luhmann immer wieder.

Sinn ist für Luhmann der Sinn für Möglichkeiten, für Optionen. Das Binäre die Dualismen sind nur Zwischenstufen, derer sich das Soziale bedient, um Komplexität von Sinn zu steigern oder zu reduzieren. 

Insofern ist die Systemtheorie eine #Differenztheorie. Komplexität ist Voraussetzung, wenn nicht sogar Notwendigkeit, um Differenz herzustellen, die wiederum beim autonomen Gegenüber Komplexität erhöht. 

GL

 

Die Zuordnung der Bilder erfolgte nicht illustrativ, sondern verweist auf Gleichzeitigkeit: Textstudium zu „Soziale Systeme“ v. N.Luhmann und Modellierung der ElefantenTanten und der Palmena für # DomodossolaStadtderLiebe fanden gleichzeitig statt.

Palmena ist eine erfundene Figur. Die Witwe lebte in Domodossola, als Ihr Mann starb, nähte sie sich eine Puppe, die sie immer mit sich herumtrug. Nachihrem Tod wurde ihr ein Denkmal errichtet.  

(1) https://www.welt.de/kultur/article248370302/Niklas-Luhmann-zum-25-Todestag-Die-Freiheiten-des-Aussenseiters.html

Veröffentlicht von glierschofat

ein Zeichner, der gerne überzeichnet Vorsicht kann zur Satire gerinnen war Schüler und Mitarbeiter von Joseph Beuys & Bazon Brock

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